Digitale Ethik – als Chance für Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft.

Wir kommunizieren, vernetzen, teilen und konsumieren unser Wissen heute digital. Die Digitalisierung eröffnet uns dazu ein nahezu unbegrenztes Spektrum an Möglichkeiten und prägt, wie wir heute leben, arbeiten und miteinander umgehen. Welche Einflüsse hat die Digitalisierung auf uns Menschen, die Gesellschaft und die Wirtschaft? Wie sollen wir uns in dieser digitalen Welt verantwortungsbewusst verhalten? Chris Bühler – Digitalisierungs-Ethiker, Referent, Berater für digitale Strategie und Zusammenarbeit, schenkt uns Klarheit.

Was ist Digitale Ethik?

Etwas plakativ gesagt, ist es mittlerweile schon fast ein Marketingbegriff. Ein Ausdruck, bekannt in aller Munde, doch die Hintergründe dazu sind vielen noch etwas schleierhaft. Insgesamt ist für mich das stark wachsende Interesse an der Digitalen Ethik in den letzten Jahren aber eine sehr wichtige und erfreuliche Entwicklung. Denn wie auch die Digitalisierung, ist die Digitale Ethik gekommen, um zu bleiben und dient als wichtige Begleiterin unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels. Ethik ist als Disziplin seit über 2000 Jahren in der westlichen Philosophie fest verankert. Sie beschäftigt sich mit dem Streben nach dem «guten Leben». Letztlich geht es, wie der Philosoph Immanuel Kant, für ihn untypisch kurz auf den Punkt brachte, um die Frage: «Was soll ich tun?» Hinzu kommt jetzt noch die Komponente «Digital». Kurz zusammengefasst ist für mich Digitale Ethik ein Wegweiser, der uns bei dieser Fragestellung hilft: «Wie können wir gut leben in einer sehr dicht vernetzten Welt?»

«Digitale Ethik ist ein Wegweiser, der uns bei dieser Fragestellung hilft: ‹Wie können wir gut leben in einer sehr dicht vernetzten Welt?›.»

Chris Bühler,

Digitalisierungs-Ethiker

Warum ist Digitale Ethik wichtig?

Dazu gebe ich gern ein Beispiel: Heutzutage können wir dank den digitalen Medien orts- und zeitunabhängig mit der ganzen Welt kommunizieren. Neue Arbeitsmodelle lassen Remote Work und Homeoffice zu. Unsere Infrastruktur ist so ausgeklügelt, dass sie diese dichte Vernetzung mit all ihren Möglichkeiten unterstützt. Das führt aber auch zu einer Verschmelzung unserer Arbeits- und privaten Welt. Damit müssen wir umzugehen lernen. Während der Pandemie haben die meisten von uns, wohl einmal unverhofft einen Blick in die Wohnräume unseres Chefs und unserer Arbeitskolleginnen und Kollegen geworfen. Doch wie gehen wir damit um, wenn wir dank digitaler Möglichkeiten der Zusammenarbeit plötzlich direkt ins Privatleben anderer, teils fremder Menschen sehen? Ist es legitim, von dem was ich da sehe, Schlüsse auf Berufliches zu ziehen? Digitale Ethik schenkt uns in solchen Fällen Orientierung, indem sie uns Werkzeuge und Methoden liefert, solche Fragen zielführend anzugehen.

Ein anderes Beispiel: Wir geben ganz unbewusst immer wieder persönliche Daten von uns in der Öffentlichkeit preis. Kürzlich habe ich in einer Apotheke zufällig ein Gespräch einer Kundin mitbekommen. Von der Adresse bis zum Geburtsdatum und Beschwerden konnte ich ungewollt alles mithören, was diese der Apothekerin gesagt hat. Das war natürlich etwas unsensibel von den beiden. Wenn ich aber böse Absichten hätte und auf diese Weise viele Daten im analogen Raum sammeln wollte, wäre das sehr aufwändig. Mit der Digitalisierung ist das ganz anders geworden: Digital produzieren wir tagtäglich Unmengen an Daten, die in unseren Alltag blicken lassen und die sich auch viel leichter skaliert sammeln und nutzen lassen. Doch weil das alles nicht so offensichtlich ist, wie ein ungewollter Zuhörer in der Apotheke, bemerken wir das viel weniger. Als analoge Wesen mit unseren Steinzeitgehirnen können wir das ganze Ausmass davon, was hinter den digitalen Kulissen passiert, gar nicht fassen. Wir lernen es erst mit der Zeit.

So betreten wir mit der Digitalen Ethik teils noch Neuland auf der Suche nach Orientierung. Wir alle leben zwar nach moralischen Wertvorstellungen, die häufig über viele Generationen weitergegeben werden. Von den «universalen Menschenrechten» bis zu Unternehmenswerten und individuellen Normen besitzen wir bereits einen breit gefächerten «moralischen Kompass», um im Alltag – meist intuitiv – zu erkennen, ob wir «richtig» oder «falsch» handeln. Doch viele dieser althergebrachten Regeln müssen für das Digitale Zeitalter ergänzt, angepasst oder auch mal über Bord geworfen werden. Digitale Ethik hilft uns also, in dieser vernetzten, schnelllebigen und komplexen Welt, unseren «Kompass» zu aktualisieren und Orientierung zu schaffen.

«Als analoge Wesen mit unseren Steinzeitgehirnen können wir das ganze Ausmass davon, was hinter den digitalen Kulissen passiert, gar nicht fassen.»

Chris Bühler,

Digitalisierungs-Ethiker

Was sind Chancen und Herausforderungen in der Digitalen Ethik?

Da bediene ich mich gerne mal dem Klischee, dass Ethiker immer miesepetrige Spielverderber seien, und starte mit den Herausforderungen (lacht). Ethik und Moral stehen oft im negativen Licht des Verhinderers oder des Bremsklotzes. Dies hat zweifellos auch mit der Geschichte unserer westlichen Kultur zu tun, wo moralische Verbote lange eine grosse Rolle spielten. Von diesem «Moral-Zeigefinger-Denken» müssen wir aber unbedingt wegkommen und die Chancen erkennen, die uns die Digitale Ethik bietet. Orientieren wir uns nochmal an der Aussage: «Was soll ich tun?», erkennen wir, dass uns (Digitale) Ethik Möglichkeiten aufzeigt, die uns zur Entwicklung von besseren Lösungen und Innovationen antreiben und uns so hoffentlich auch glücklicher machen.

Dass die Digitale Ethik zum Trendthema wird, ist eine weitere Herausforderung und birgt die Gefahr des «Whitewashings» also zu Deutsch, der Schönfärberei. So erkennen Unternehmen klar, dass sich mit dem Label «Digitale Ethik» gut werben lässt. Sie kreieren also Richtlinien und «Codes of Conduct» für Mitarbeitende oder richten «Ethik-Boards» ein – das ist aber oft nur ein Weg-Delegieren von Verantwortung. Die Marketingabteilung kommuniziert diese Verhaltensregeln dann nach Aussen und somit wirkt das Unternehmen fit und gerüstet für die Zukunft – das «richtige» Verhalten ist kommuniziert und das Unternehmen entsprechend positioniert. Doch wie bei der Einführung der Unternehmenskultur und Werten reicht es nicht, nur darüber zu kommunizieren. Das (Vor-)leben, das Miteinander und die tägliche Auseinandersetzung damit, sind entscheidend für die Authentizität und die Glaubwürdigkeit der Anstrengungen in diesem Bereich und damit letztlich für den Erfolg. Es geht also nicht darum, einfach nur Regeln oder «Algorithmen» für das Verhalten von Menschen zu entwickeln, denen sie blind folgen sollen. Der nachhaltigere Weg ist es, Mitarbeitende zu befähigen, sich diese notwendigen Gedanken selbst zu machen. Für jedes Unternehmen bedeutet dies auch eine Investition an Zeit, Ressourcen und Kosten. Doch das, und davon bin ich überzeugt, wird sich langfristig durchaus auch auf Gewinn und Image einer Unternehmung auszahlen.

«Es geht also nicht darum Algorithmen für das Verhalten von Menschen zu entwickeln, sondern sie zu befähigen, sich diese notwendigen Gedanken selbst zu machen.»

Chris Bühler,

Digitalisierungs-Ethiker

Wo siehst du in der Schweizer Wirtschaft noch das grösste Potenzial in Bezug auf Digitale Ethik – was sollen und können wir tun?

Ich höre oft den Wunsch möglichst schnell, Regelwerke und Richtlinien zu entwickeln nach welchen Firmen handeln können. Das ist verständlich – aber nicht unbedingt hilfreich. Denn der Digitale Fortschritt konfrontiert uns immer wieder mit neuen, komplexen Situationen. Statt also sofort starre Regeln zu definieren und quasi den Mitarbeitenden «einzuprogrammieren», empfehle ich zunächst über (Unternehmens-)Werte zu sprechen: Wie wollen wir uns verhalten und wie wollen wir als Unternehmen wahrgenommen werden? Wo können wir auf bestehende Unternehmenswerte aufbauen und wie lassen sie sich auf unsere Strategie in Bezug auf den Digitalen Wandel übersetzen? Auf Basis dieser Grundlage lassen sich bedeutend agilere Gefässe und Prozesse schaffen als mit althergebrachten, «in Stein gemeisselten Gesetzestafeln». So bleibt ein Unternehmen auch im Digitalen Zeitalter moralisch souverän – was auch zunehmend ein Wirtschaftsfaktor ist.

 

Wie können wir als Unternehmen verantwortungsbewusst Handeln?

Hinschauen und Fragen stellen! Erstmal den Blick öffnen und eine Sensibilisierung schaffen. Beispielsweise für unsere Kontaktpunkte mit Kunden in der Digitalen Welt. Welche dieser Punkte berühren wir als Unternehmen? Wie gehen wir damit um? Wo müssen wir Klarheit und Orientierung im Verhalten und Umgang damit schaffen? Sind bereits entsprechende Vorgaben, wie zum Beispiel Unternehmenswerte, Datenschutz-Policies, Zertifizierungsrichtlinien, etc. vorhanden? Wie eignen wir uns die nötigen Kompetenzen an? Gibt es eine interne Lösung oder benötigen wir externe Unterstützung oder Betreuung?
Was ich auch immer als konkreten Schritt empfehle, ist der Perspektivenwechsel in Richtung des Kunden: Mit welchen Themen konfrontieren wir ihn da? Sind unsere Digitalisierungsmassnahmen verständlich, nachvollziehbar und vor allem kundenfreundlich? Denn auch Kunden nutzen die Flexibilität, die ihnen die digitale Welt bietet und wechseln schneller den Anbieter, wenn sie nicht zufrieden sind.
Dieses letzte Beispiel zeigt auch gleich, dass moralisch korrektes Verhalten zu einer Win-Win-Situation führt: Verantwortungsbewusstes Handeln schafft einen Mehrwert für Kunden ebenso wie für das Unternehmen und sichert auch dessen langfristigen wirtschaftlichen Erfolg.

 

Was ist für uns als Arbeitgebende und Arbeitnehmende wichtig?

Ich wiederhole mich natürlich jetzt, doch im Moment ist es vor allem wichtig, die Sensibilität für Digitale Ethik aufzubauen, und zwar auf jeder Stufe des Unternehmens! Da gibt es noch viel zu tun. Beispielsweise müssen wir mit der Digitalisierung noch einmal auf einem ganz neuen Level ein Bewusstsein für unseren Umgang mit Daten entwickeln. Und wir müssen uns dazu strategisch Positionieren. Jeder einzelne soll dafür eine gewisse Achtsamkeit entwickeln, egal ob es ums korrekte Verarbeiten einer einzelnen Kundeninformation in einem Excel-Dokument geht oder eine datengetriebene Neuausrichtung des Geschäftsmodells.
Grundlegende Werte wie Fairness, Transparenz und Vertrauen können uns dazu wichtige Wegweiser sein in dieser komplexen, digitalen VUCA-Welt. Gerade weil wir gar nicht mehr alles erfassen können, was da in Datenbanken und mit Algorithmen genau passiert, gewinnt etwa Vertrauen wieder an Wichtigkeit: Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, alles selber nachzuvollziehen, müssen wir darauf vertrauen können, dass die Richtigkeit und Qualität, der uns zur Verfügung stehenden Informationen stimmt.

Um erfolgreich ein ethisch-moralisches Engagement im Unternehmen zu erreichen ist es empfehlenswert, immer wieder Kontaktpunkte zu kreieren, um sich das Thema Digitale Ethik zu vergegenwärtigen und sich so eine digitale Kompetenz anzueignen. Diese sollte man nicht nur als technische Kompetenz verstehen, sondern auch als Sozial- und Medienkompetenz, die auch den Umgang mit digitalen Medien, umfasst.

«Funktionieren wir nur nach Regeln und Standards sind wir zukünftig schnell ersetzbar durch Roboter.»

Chris Bühler,

Digitalisierungs-Ethiker

Welche Regeln und Standards sind für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Digitalisierung notwendig?

Bezogen auf die Digitale Ethik ist das Bewusstmachen und das Schaffen von Kompetenzen für dieses Thema aus meiner Sicht gewinnbringender als das blinde Befolgen von Regeln.

Reisserisch gesagt: Funktionieren wir nur nach Regeln und Standards sind wir zukünftig schnell ersetzbar durch Roboter.

 

Unser technischer Fortschritt, Themen wie Robotics und künstliche Intelligenz, wachsen rasant und wir werden damit immer stärker konfrontiert. Doch ersetzen lassen wollen wir uns nicht! Denn uns Menschen macht ja eben aus, dass wir menschlich sind.
Ein Blick in die Zukunft. Was kommt auf uns zu? Und welche moralischen Fragen, Werte und Grundsätze gilt es für uns zu beachten und zu beantworten?

Eine schöne Aussage. Aber was macht uns «menschlich»? Diese – typisch philosophische – Frage müssen wir uns genau vor dem aktuellen Hintergrund neu stellen. Im Moment definieren wir uns stark über unsere Arbeit – und dies wird sich wahrscheinlich fundamental wandeln in der Zukunft. Immer mehr Arbeiten lassen sich automatisieren, von Robotern übernehmen etc. Im Extremfall wird es einen sogenannten Moment der Singularität geben. Das heisst, dass künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft. Zwar streitet sich die Wissenschaft noch, ob das überhaupt je passieren wird. Trotzdem müssen wir spätestens dann unsere menschliche Identität erneut in Frage stellen und klären. Ich finde: Je früher wir damit anfangen, desto besser!

Digitalisierung ist jedoch keine Naturgewalt, kein unveränderliches Schicksal, das wir nur passiv zu ertragen haben. Wir Menschen können darüber entscheiden, wohin wir wollen, und als demokratische Gesellschaft haben wir auch Werkzeuge dazu. Diese müssen wir unbedingt nutzen!

Das entscheidende Schlagwort ist hier «wollen». Ich finde es wichtig, dass wir uns jetzt wirklich bewusst fragen: Wohin wollen wir als Menschheit? Wie wollen wir den digitalen Wandel nutzen, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten? Wer soll davon profitieren und wie gehen wir mit den neuen Problemen um, vor die uns dieser fundamentale Wandel stellt?

 

Herzlichen Dank für das klärende und informative Interview, Chris. Welche Take-Home-Message möchtest du uns mit auf den Weg geben?

Ethik und Digitalkompetenz können uns dabei helfen Chancen des Digitalen Wandels zu erkennen und Risiken zu verringern. Zuerst müssen wir also eine Sensibilität für das Thema «gut leben in einer dicht vernetzten Welt» schaffen. Auf dieser Basis sollten wir anschliessend eine Haltung entwickeln, wie wir mit neuen Herausforderungen umgehen wollen – als Einzelperson ebenso wie als Unternehmen. Schliesslich müssen wir Verantwortung für unser Handeln übernehmen und unsere Haltung auch im Alltag leben.

Dies befähigt uns, souverän vorwärtszugehen und die Welt von morgen aktiv mitzugestalten, statt uns vor dem «Gespenst der Digitalisierung» schrecken zu lassen.

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